Wie gesund ist der Fußball in Zeiten von Corona?


Überrascht von seinem ungekannten Desinteresse am aktuellen Geschehen im deutschen Profifußball kommentiert der Fanbeauftrage des VfL Halle 96 Daniel Schierhold die aktuellen Entwicklungen des Sports in der Corona-Krise und gibt einen Ausblick auf den Re-Start der Oberliga.


© Gerd Altmann auf Pixabay

Die Pokalsensation und der Zufall

Es ist Mittwochabend vor einer Woche. Ich hatte mich gerade mit lange nicht gesehenen Arbeitskolleginnen und -Kollegen via Smartphone zu den jüngsten Eindämmungsmaßnahmen und der damit verbundenen Kurzarbeit ausgetauscht und wollte den Abend – thematisch passend – vor dem Fernseher mit einer Extra-Ausgabe des ARD Magazins „Monitor“ ausklingen lassen. Aber statt Informationen über die prekäre Situation von wohnungslosen Menschen im Lockdown huschten ganz und gar nicht existenzbedrohte Menschen über den Bildschirm: Es lief die DFB-Pokalübertragung Holstein Kiel vs. FC Bayern München. Der Grund für die Programmänderung stand in der linken, oberen Ecke des Bildschirms: 2:2 in der 110. Spielminute. Natürlich hatten Sie in der Programmplanung der ARD nicht mit einer Verlängerung oder gar einem Elfmeterschießen gerechnet – ich auch nicht. Meine Überraschung war groß, nicht nur wegen der sportlichen Sensation, sondern auch durch die Tatsache, dass dieses Duell – von der Auslosung bis zur Übertragung – bis dato vollständig an mir vorübergegangen war.

Sicherlich kein großer Fußball-Fan“ werden Sie jetzt vermutlich über den Autor dieser Zeilen denken, aber das Gegenteil ist der Fall: seit nunmehr 25 Jahren verfolge ich den Werdegang meines fünftklassigen Herzensvereins, den VfL Halle 96, lebe und liebe dabei den Fußball und das damit verbundene Stadionerlebnis. Und genau darin liegt das Problem: mit zunehmender Dauer der coronabedingten Spielunterbrechung im Amateur-Fußball schwindet mein Interesse und die Aufmerksamkeit für den Profisport, ja sogar das Verständnis dafür, dass bei Inzidenzen im dreistelligen Bereich überhaupt noch irgendwo gekickt wird.

Die Arbeitskolleg*innen, die ihr ganzes Leben kein Stadion von innen gesehen haben, sich aber seit ein paar Jahren, immer montags, angeregt über das Abschneiden des Bundesligisten aus der Nachbarstadt unterhalten, belächle ich schon lange, wenn sie sich mal wieder gegenseitig die hohlen Phrasen aus dem „Doppelpass“ an die Köpfe werfen. Genauso wenig konnten diese Leute nachvollziehen, warum ich mir fast jedes Wochenende mit etwas mehr als 100 Zuschauer:innen einen Grusel-Kick in der mitteldeutschen Provinz antue.

Die Distanz zwischen diesen zwei Fußball-Welten war schon immer groß, auch vor Corona, doch der Graben, den die DFL im Frühsommer mit dem Re-Start der Bundesliga zwischen Profis und Amateuren ausgehoben hat, wird von Spieltag zu Spieltag tiefer.

Der Sport als verbindendes Element

Die Chancen waren groß, als im Frühjahr der Ball fast weltweit ruhte, weder der FC Bayern, noch Holstein Kiel und auch nicht die F-Jugend meines VfL trainieren oder spielen konnten. „Solidarität“ und „miteinander“ waren die Worte dieser Zeit, in der der Fußball seiner gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen wollte. Profis verzichteten auf ihre Gehälter um knappe Vereinskassen zu schonen, Amateurspieler halfen in Sozialeinrichtungen und Ultras zeigten mit unterschiedlichen Aktionen ihre Dankbarkeit gegenüber Pflegerinnen und Pflegern. Eine Utopie des Zusammenhalts machte sich breit und es wurde offen über eine solidarische Umverteilung der Fernsehgelder debattiert, innerhalb der Profiligen bis hinunter in die Landesverbände der Amateure, damit auch die Basis des deutschen Fußballs, die Amateurvereine, nicht an Corona sterben müssen.

Szene aus dem ersten Geisterspiel in der Corona-Pandemie
© picture-alliance/dpa/RHR-FOTO

Doch was dann im Mai 2020 mit dem Re-Start und den damit verbundenen Geisterspielen seinen Lauf nahm, lies die Rufe nach „Revolution“ von außen an der Blase zerplatzen, in der sich der Profifußball seit jeher befindet. Die Bundesliga, in den 60er Jahren der BRD gegründet um die internationale Konkurrenzfähigkeit im Vergleich zu anderen europäischen Profiligen wiederherzustellen, hat sich nicht nur sukzessive von der Basis Amateursport abgegrenzt, sondern mit ihrem Sonderstatus während der Pandemie auch vom Rest der Gesellschaft.

Der systemrelevante Profifußball

Die deutschen Profis kicken also wieder, in privaten Labors überwacht und getestet, während Geschäfte, Kneipen und Restaurants, Museen und Theater, Messen- und Konzerthäuser und zahlreiche andere Einrichtungen nur bedingt oder gar nicht öffnen können.
Ist das heute, im Januar 2021, mitten in einer ungleich höheren Welle der Infektionszahlen, während bereits monatelang über Maßnahmenverschärfung debattiert wird, noch akzeptabel?
Wir brauchen keine öffentliche Debatte über Sonderrechte für Geimpfte, wenn Bundesliga-Profis schon seit Monaten Privilegien genießen, die für den Rest der Bevölkerung illusorisch sind.

Welche Signale senden die Spieler in ihren Jubeltrauben nach dem Torerfolg aus und wie fühlen sich alleinstehende Menschen, die seit Monaten niemanden mehr umarmen konnten, angesichts solcher Bilder? Wie soll die Bevölkerung verstehen, dass sich nur zwei Haushalte treffen dürfen, während 20 hochrangige Vereinsrepräsentanten mehr oder weniger dicht an dicht auf der Ehrentribüne eines ansonsten leeren Stadions platznehmen? Und warum darf der Aufsichtsratsvorsitzende im Stadion sein, aber der 17jährige Ultra oder die langjährige Dauerkarteninhaberin nicht?
Fragen, bei denen ich nur mit dem Kopf schütteln kann und durch die mir der Grund für mein persönliches Desinteresse wieder bewusst wird.

Das System erhält sich selbst und es braucht Fans wie mich schon lange nicht mehr dazu – Es braucht die Zuschauer:innen der Pay-TV Kanäle, die das alles finanzieren ohne zu hinterfragen.
Neben dem konventionellen Sponsoring sind die Erlöse aus der Vergabe der Übertragungsrechte die Haupteinnahmequelle der Profi-Clubs, bzw. deren ausgegliederten AGs, GmbHs, usw. Ticketverkäufe oder Gewinne aus dem Verkauf von Fanartikeln sind nur Peanuts im Milliarden-Business.
Exorbitant hohe Einnahmen, die, neben großzügigen Managergehältern, auch entsprechend hohe Ablösesummen und Spielergehälter ermöglichen.

Das Durchschnittsgehalt eines Bundesliga-Profis betrug 2020 knapp 1,85 Millionen Euro pro Jahr. Ein einziger Bundesligaprofi verdient also in einem Jahr die gleiche Summe, mit der mein VfL Halle 96 mindestens 5 Jahre lang den kompletten Spielbetrieb von der Oberliga bis in die F-Jugend sichern könnte.
Wer wundert sich da noch über vergoldete Steaks auf dem Teller von Bayern-Star Frank Ribery (2019), oder dass Robert Lewandowski zwar seinen Porsche geschrottet (2016), aber immerhin noch einen Ferrari und (!) einen Lamborghini als Ersatz zur Verfügung hat.
Diese und vergleichbare Luxus-Eskapaden unserer Star-Kicker werden uns wohl auch noch nach Corona beschäftigen, solange DFB und DFL keine Regelungen für echtes „financial fair-play“ beschließen und damit endlich die Weichen für mehr sportliche Ausgewogenheit zwischen den reichen und weniger reichen Teams der Bundesliga stellen.

© Rolf Vennenbernd /dpa

Die vertane Chance

Die Ungleichverteilung der TV Gelder, zumindest innerhalb der ersten beiden Ligen, etwas aufzuweichen scheint jedoch von der DFL nicht wirklich gewollt zu sein. Die bereits in den 60er Jahren beschworene „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ bestimmt scheinbar immer noch das Handeln des Verbandes, der nach wie vor alles dafür tut die Interessen seiner Top-Clubs zu wahren.

Aller im Vorfeld verkündeten Reformpläne zum Trotz bleibt es beim von Grund auf unsolidarischen Verteilungsprinzip, das die ohnehin schon reichen Top-Clubs gegenüber den kleinen Vereinen bevorteilt. Die Reichen werden reicher und die Armen treten auf der Stelle. Daran ändert sich auch nach der Neuvergabe der Übertragungsrechte im Dezember 2020 nichts, wie WDR Sport-inside kürzlich analysierte.

Zumindest in dieser Tatsache zeigt sich die Bundesliga doch als Spiegelbild der Gesellschaft, wenn auch nur am Beispiel des ewigen Kreislaufs der kapitalistischen Verteilungstheorie.

Umso mehr freut es mich, als der Ex-St.Paulianer Fin Bartels (Marktwert 600.000 Euro) anläuft und den entscheidenden Elfmeter gegen Welttorhüter Manuel Neuer (18 Millionen Euro) verwandelt. Für einen Moment fühlt es sich an, als ob das Kieler Holstein-Stadion ausverkauft wäre und gleich die Emotionen von 15.000 Fans auf die Spieler hereinbrechen werden – aber das passiert nicht. Die Spieler feiern allein auf dem Rasen, ohne ihre Fans, für die das, neben den Aufstiegen, der wohl emotionalste Moment in ihrem Vereinsleben sein dürfte. Fans und Spieler eines Vereins im Triumph so unüberwindbar voneinander getrennt zu sehen tut mir weh und so sehr ich mir auch wünsche einmal im Leben die Bayern aus dem Pokal zu schießen, so glücklich bin ich in dieser Pandemie kein Fan von Holstein Kiel zu sein.

Die anschließende Party rund um das Holstein-Stadion war sicher großartig und der ein oder andere Fan lag bestimmt in den Armen einer/s Fremden – hätte ich auch gemacht – doch nach dem Rausch der Euphorie folgt der ernüchternde Blick auf den Inzidenzwert, der für Kiel hoffentlich auch nach den Feierlichkeiten nur zweistellig bleibt.

Torjubel bei Halle 96, vor Corona
© Jens Franke / vflhalle96.de

…und was hat das mit Halle 96 zu tun?

Beim VfL Halle sind wir davon meilenweit entfernt. Sowohl von einer derart niedrigen Inzidenz, als auch von einer vergleichbaren Pokalsensation, geschweige denn überhaupt von einem Fußballspiel im HWG-Stadion am Zoo.
Den zum ersten Lockdown 2020 vorerst ausgesetzten Spielbetrieb brach der Nordostdeutsche Fußballverband später ab, eine mögliche Fortsetzung der Saison ohne Zuschauer:innen fand zum Wohle der Vereine und im Interesse der Fans nicht statt.

Aus den anfänglichen Scherzen „Geisterspiele können wir bestimmt richtig gut, der VfL spielt doch schon seit Jahren vor fast leeren Rängen“ sollte in der kommenden Spielzeit jedoch bitterer Ernst werden.
Nach der Sommerpause starteten die Sechsundneunziger furios in die aktuelle Saison, feierten gemeinsam mit ihren Anhänger:innen grandiose Siege und etablierten sich schnell unter den Top-Teams der Liga. Einen kleinen Dämpfer erhielt die blau-rote Fanseele, als die Mannschaft an einem Freitagabend im September 2020 alleine unter Flutlicht bei Wacker Nordhausen antreten musste. Gästefans durften damals nicht anreisen, doch die Spieler des VfL machten mit einer Grußbotschaft an die daheimgebliebenen Fans und einem Appell für Fanrechte auf sich aufmerksam.

Der Tiefpunkt kam dann im November, als beim langersehnten Gastspiel im Erfurter Steigerwaldstadion vor mindestens 18.500 leeren Plätzen die erste Niederlage der Saison und das erste echte Geisterspiel der Vereinsgeschichte hingenommen werden mussten. Es war das vorerst letzte Spiel. Alle Teams der Oberliga befinden sich seitdem, wie der Rest der Bevölkerung, im „zweiten Lockdown“ – seit nunmehr 80 Tagen ruht der Ball.
Das ist immerhin schon 2 Wochen länger, als die Bundesliga 2020 für ihren Re-Start gebraucht hat, doch so mancher Funktionär im NOFV wird scheinbar etwas ungeduldig.

Zu Jahresbeginn 2021 formierte sich eine Taskforce aus Vereinsvertreter:innen der Oberliga Nord und Süd, um über eine eventuelle Fortsetzung des Spielbetriebs zu beraten – mein VfL ist nicht dabei. Nicht etwa weil sie es nicht wollten, sondern weil neben den einzelnen Bundesländern auch alle Tabellenregionen repräsentiert sein sollten. Daher sitzen nun die punktgleich mit uns an der Tabellenspitze liegenden Eilenburger (Sachsen), das Kellerkind Nordhausen (Thüringen) und aus unserem Bundesland Union Sandersdorf aus dem Mittelfeld mit den Vertreter:innen der Nordstaffel an einem Tisch.
Die laufende Saison abzubrechen erscheint in Anbetracht der Tatsache, dass gerade einmal ein Viertel der angesetzten Spiele ausgetragen wurde, mehr als unwahrscheinlich, doch an der Situation der Vereine, die im Sommer noch mehrheitlich für einen Abbruch plädierten, hat sich nichts verändert. Die Argumente gegen Geisterspiele liegen unverändert auf dem Tisch.
So bleibt also die Hoffnung, dass diese Taskforce eine vernünftige Entscheidung im Sinne der Gesundheit aller Beteiligten trifft und nicht ausschließlich im Interesse der Spitzenteams handelt.

Auf meine Nachfrage bei den Sechsundneunzigern versicherte mir der Geschäftsführer Gregor Schoenecker, dass der VfL eine Aufnahme des Spielbetriebs vor März ausschließe und im Sinne der Sportlichkeit gerne die Hinrunde beenden möchte, sodass jedes Team einmal gegen den Rest der Liga gespielt hat. Je nach Terminlage könnten danach noch PlayOffs um Auf- und Abstieg durchgeführt werden, aber all das sei nur umsetzbar, wenn „im März mindestens eine Teilöffnung der Stadien für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer möglich ist.“ Auch das klingt für mich, angesichts geschlossener Theater und Museen bis mindestens 31. März, vielleicht noch länger, sehr ambitioniert und auch die Oberliga wird früher oder später in Terminnot geraten. Für berufstätige Amateursportler:innen sind zusätzliche Spieltermine unter der Woche zeitlich (und für viele auch konditionell) nicht machbar.

Wir erleben gerade die sportlich beste Oberligasaison des VfL seit 1999, dem Aufstieg in die damals drittklassige Regionalliga, – aber wenn wir diese Spielzeit jetzt aus Rücksicht und Solidarität mit dem Rest der Bevölkerung abbrechen müssen, DANN IST DAS EBEN SO. Wir nehmen die Pandemie und unsere eigene, sowie die Gesundheit unserer Mitmenschen ernst und handeln danach, egal wie schön es wäre am Ende der Saison ganz oben zu stehen und unseren Freunden von Tennis-Borussia Berlin und Chemie Leipzig in die Regionalliga zu folgen.
Der Amateursport und damit die Vereine der Oberliga haben immer noch die Chance sich in Demut zu üben und die verantwortungsvolle Vorbildfunktion einzunehmen, die der Profifußball schon längst verspielt hat.

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